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„Der Vorhang des Tempels reißt“

Fastentuch - Der Vorhang des Tempels reißt entzwei
Datum:
Veröffentlicht: 10.4.20
Von:
Katja Erlwein
Es passiert fundamental Erschütterndes in den Bibeltexten des Karfreitags, das erst einmal nichts mit dem Begriff „Lebensfokus“ zu tun hat.

Es passiert fundamental Erschütterndes in den Bibeltexten des Karfreitags, das erst einmal nichts mit dem Begriff „Lebensfokus“ zu tun hat. Werte, Beziehungen sind zerstört nach dem Verrat, der Verurteilung und dem Leiden. Da ist auch nicht viel von geteiltem Leid zu spüren, wenn Jesus als Hoffnungsträger, als von allen Freunden und Begleitern erwarteter Messias am Kreuz stirbt.

Lebensfundamente sind erschüttert, denn es wirkt schon schockierend, dass Menschen dem Gottessohn ein solches Lebensende bereiten. Die Beschreibung der beiden jungen Künstler zum Bild unseres Fastentuchs beruft sich auf einen Ausschnitt des Passionsevangeliums vom heutigen Karfreitag:

„Und siehe, der Vorhang riss im Tempel von oben bis unten entzwei. Die Erde bebte und die Felsen spalteten sich“ (Mt 27,51).

Der worst case. Exitus. Aus. Ende. Vorbei. Dunkelheit. Angst. Erdbeben. Das Wichtigste zerstört. Der Blick auf das Allerheiligste offen.

Es ist der worst case.“

Im Bilderkonzept des Fastentuchs finden wir dieses Bild in der unteren Reihe, in unmittelbarer Bodennähe am Fundament des ganzen Tuchs. Es öffnet sich beim Betrachten im Bild des zerrissenen Tempelvorhangs (eine ungeheuerliche Vorstellung für einen jüdischen Gläubigen) scheinbar der Blick auf einen weiten Raum. Wer unsere Oberkirche kennt weiß, dass hinter der Konstruktion des Fastentuchs die Feuersteinkonche verborgen ist. Zeitweise steht darin auch unser Siebenarmiger Leuchter, die Menora. Sie ist eine der wenigen zentralen Teile unserer Feuersteinkirche neben dem Kreuz und dem Altar. Es ist der Blick auf das Allerheiligste von Glaube und Religion, der möglich ist, weil das Fastentuch im zerstörten Tempelvorhang aufgerissen scheint. So kann jeder „durchschauen“. Laut dem Bibeltext scheint sich die Erde, Gottes Schöpfung, in diesem Moment zu wehren, sie reagiert vielleicht ebenso, wie es uns an dieser Stelle gehen würde – mit Erschütterung und innerem Beben. Der Puls steigt.

Wir blicken aus der zeitlichen Entfernung von 2000 Jahren auf dieses Geschehen und in vielen geschichtlichen und persönlichen Situationen scheint das Welt- und Glaubensbild zu beben. In diesem Jahr, in dem so vieles anders ist, wird uns das besonders bewusst. Und es fallen uns aktuelle Bezüge ein, die sehr nachdenklich machen. Der Karfreitag 2020 könnte uns dazu motivieren, eine neue Perspektive gegenüber unseren Kreuzen daheim einzunehmen, die vielleicht eher ein verstaubtes Dasein an der Wand fristen. Oder wir gehen heute gemeinsam in der Haus- und Familiengemeinschaft einen Weg – in Erinnerung an den damaligen Kreuzweg Jesu.

Aus der zeitlichen Entfernung und auch aus der Perspektive der Verfasser der Evangelien wissen wir, dass dieses Schauen auf einen scheinbar verletzlichen Gott eine Blickrichtung der Treue, des Mitleidens Gottes und dann eines unerschütterlichen Lebens ist. Die Bedeutung dieses Tages ist nicht so leicht zu erfassen – und der Tag geht oft erschreckend langsam vorbei. Aber sie lässt uns Grenzen überschreiten. Hin zum Leben. Sie fordert uns und unseren Glauben heraus. Sie stellt Fragen aber sie ermutigt uns auch zum Gebet. Also doch ein Lebensfokus.

(Gedanken zum Tagesevangelium Joh 18,1-42, von Burkhard Farrenkopf)